Sievert Karsten Frank

Leseprobe 2 - Liebe

An diesem Tag trat der Kleine während der Ruhepause zu Nikodemus. „Du gehst schon einen weiten Weg mit uns.“
„Das ist wahr.“
„Du siehst dabei immer so ernst und nachdenklich aus.“
Nikodemus antwortete ein wenig von oben herab, wie er es als Lehrer Israels wohl durfte: „Das Gesetz und die Propheten sind eine sehr ernste Angelegenheit. Und wir lernen von Tag zu Tag immer weiter in und an den heiligen Überlieferungen. Da muss man zu jeder Zeit sehr aufmerksam und wach bleiben.“
„Der Meister sagt: Das Gesetz führt uns zur Freude in Gott!“
„Aber dazu bedarf es großer Anstrengungen hier! Der Allmächtige hat uns durch Moses das Gesetz gegeben, und wir müssen es genau einhalten.“
Der Kleine ließ nicht locker: „Du bist ein Pharisäer. Du musst es wissen. Warum hat der HERR, der Herrscher des Himmels, uns in Moses und den Propheten so viele schwierige Anweisungen gegeben?“
„Damit wir ihm unsere Ehrfurcht beweisen können. Er möchte, dass unser Leben gelingt. Und Er möchte, dass wir rein und frei von Sünde auf die Auferstehung warten können. Er liebt uns. Deshalb verlangt Er diese andauernde Arbeit von uns. Wir sollen uns dieser Seiner Liebe als würdig erweisen.“
„Glaubst du, dass du es erreichen kannst?“
„Niemand außer unserem Vater im Himmel ist vollkommen.“
„Und wie stehen wir dann vor Ihm, wenn wir es nicht erreichen können und sozusagen befleckt vor Ihm erscheinen?“
„Er liebt Sein Volk. Ich hoffe, Er wird unser Bemühen sehen und dereinst unsere guten Werke anrechnen. Ich hoffe auf Seine Liebe und seine Barmherzigkeit. Er sieht auf Seine Menschenkinder. Er gibt acht auf alle unsere Werke.“ Ja, das war seine Überzeugung. „Er wird jedem geben nach den Früchten seiner Werke. Er liebt uns. Darum können wir auf Ihn trauen.“
„Entschuldige bitte die persönliche Frage. Aber weißt du eigentlich, was Liebe wirklich ist?“
„Das glaub ich schon: Ich liebe ein Mädchen!“
„Wirst du sie heiraten?“
„Ja, das will ich. Ich liebe sie. Sie ist mir mehr wert als alles an-dere. Mehr als mein Leben.“
„Was hat sie denn getan, damit du sie so sehr liebst?“
„Wieso: ,Was hat sie getan?´? Was soll sie getan haben?“
„Warum liebst du sie? Sie muss doch irgendwie deine Liebe geweckt haben. Hat sie für dich etwas gekocht? Hat sie dir die Füße nach einem staubigen Tag gewaschen und gesalbt? Hat sie deine Wunden mit Öl behandelt und verbunden? Irgendetwas muss sie doch getan haben.“
„Ich liebe sie einfach so. Ich liebe sie so wie sie ist. Sie hat gar nichts dazu getan.“
„Und liebte sie dich zuerst oder du sie?
„Mein Herz brannte, als ich sie von Weitem sah. Sie hatte mich noch gar nicht wahrgenommen.“
„Hat sie denn dann deine Liebe verdient?“
Nikodemus wunderte sich über sich selbst. Wieso antwortete er diesem Grünschnabel auf solche Fragen? Er wiederholte: „Sie hat gar nichts getan, und ich liebe sie einfach so. Ich möchte, dass sie ein glückliches Leben führt. Jetzt schon und dann bald in meinem Hause und an meiner Seite. Und dafür werde ich alles tun, was in meiner Macht steht. Ich würde sogar mein Leben für sie geben.“
„Siehst du!“ Der junge Mann breitete die Arme aus. „Ich wün-sche dir und ihr Glück. Du liebst sie anscheinend wirklich.“
Nikodemus sah, dass der Meister lächelte. Anscheinend hatte er ihre Unterhaltung gehört.
„Darf ich dich noch etwas fragen?“
„Nur zu!“
„Du liebst sie sehr. Was wünschst du dir von ihr?“
„Ich wünsche mir, dass sie mich wiederliebt.“
Der Kleine sprang jetzt ein wenig in die Höhe wie ein junges Füllen, das auf einer Weide herumläuft und mit allen vier Beinen zugleich in die Höhe springt. „Ich freue mich. Denk mal, Gott liebt mich! Er liebt mich so, wie du dein Mädchen liebst, sagt unser Rabbi.“ Nikodemus fand die Hüpferei doch ein wenig närrisch. Der Kleine fasste ihn an den Händen. „Du solltest auch springen!“
„Ich bin kein Kind mehr! Das gehört sich nicht für einen Pharisäer.“
„Du solltest trotzdem auch springen!“ Dann wurde der Kleine plötzlich sehr ernst. „Der Allmächtige liebt nämlich auch dich. Ganz so, wie du dein Mädchen liebst - einfach so. Ohne, dass du etwas dazu getan hast. Er sieht deine Werke. Aber sie sind nicht der Grund Seiner Liebe. Unser Vater im Himmel liebt mich und dich. Das ist doch wirklich ein Grund um vor Freude zu springen. Findest du nicht?“
Nikodemus sprang nun wirklich ein ganz klein wenig in die Höhe. Ein ganz klein wenig nur. Der Jüngere hatte in der Sache wirklich gut argumentiert. Da konnte er ihm den Sieg im Disput wohl gönnen. Dann aber sah er sich scheu um. Ob der Rabbi es bemerkt hatte? Es traf ihn tief ins Herz: Der galiläische Lehrer nickte ihm lächelnd zu. Er stimmte also seinem Schüler zu. „Er hat recht. Der himmlische Vater liebt Seine Kinder genauso, wie du deine Braut. Er gibt für Seine Liebe alles, wirklich alles hin, so, wie du von dir gesagt hast, dass du dein Leben für deine Braut geben würdest. Das ist der Urgrund aller menschlichen Weisheit: Der Vater im Himmel ist voller Liebe. Der Schöpfer des Himmels und der Erde liebt Seine gute Schöpfung. Er liebt auch dich.