Sievert Karsten Frank

Leseprobe 1 - Der geheime Brunnen

Ich ritt damals zufällig hinter einer Gazelle her in das bewusste Tal und sah dort voller Überraschung einen Menschen, der unseren geheimen Brunnen aufgedeckt und auch schon den Ledereimer heraufgezogen hatte. Dabei war das Wasser an der tiefsten Stelle des Tals noch gar nicht versiegt. Es wäre für ihn also überhaupt nicht erforderlich gewesen, den Brunnen aufzudecken. Ich kann mir auch bis heute nicht erklären, wieso er ihn überhaupt gefunden hat. Der Mann war anscheinend zu Fuß. Kein Reittier war in der Nähe zu sehen.“ Der Weise flüsterte nur noch: „Ich habe getan, was das Gesetz des Stammes verlangt. Vater Sadr hatte es mich so gelehrt und mich mit einem heiligen Schwur darauf verpflichtet. Du weißt, dass mein Pfeil auch aus großer Entfernung sein Ziel nur sehr selten verfehlte.“ Er schwieg.
Sein Bruder sah ihm an, wie sehr ihn das Ereignis auch nach so vielen Jahren noch erschütterte. Leise fragte er: „Und, war er tot?“
„Nein, jedenfalls nicht gleich, obwohl ich ihn gut getroffen hatte. Als ich zu ihm trat, ächzte er noch. Der Pfeil stak dem alten Mann tief in der Brust, und er hustete etwas Blut. Ich erkannte gleich, dass es nicht mehr nötig war, jetzt auch noch meinen Dolch zu ziehen. Er würde hier in der Einsamkeit unweigerlich auch ohne mein Messer bald sterben.
Ich hatte mich in der dunklen Gestalt geirrt. Es war keiner aus den feindlichen Stämmen. Es war ein völlig Fremder: Er trug eine fremde Kleidung unter dem Mantel, und er redete leise in der Sprache der fernen Händler. Dann verlangte er nach Wasser. Ich schöpfte es ihm frisch aus der Quelle, die unserem Stamm das Leben verheißt.“ „Und hat er dir noch etwas gesagt?“
„Das Wasser des Lebens schenkte ihm anscheinend einen kleinen Aufschub. Es war sozusagen ein Becher voll Lebenszeit. Er konnte mir noch etwas sagen. Ja, er musste mir noch etwas sagen, wie ich heute weiß. Das war etwas, was mein Leben völlig veränderte.

Wie er berichtete, war er schon lange unterwegs. Er suche nach einem verheißenen Licht, nach dem großen Heil, das von Sonnenaufgang kommen solle. Er schien mir ein Fantast zu sein, ein Narr, wie ich damals zuerst dachte. Aber dann erklärte er mit leiser werdender Stimme, dass es bei ihnen eine alte Prophezeiung gebe. Ihre Seher hätten es vorhergesagt. Er hustete dabei immer wieder etwas Blut. Er sei auf der Suche nach der Erlösung, die durch dieses Heil kommen solle. Es sei für sein bedrängtes Volk lebenswichtig, und darum habe er sich auf den Weg gemacht, um dieses verheißene Heil zu suchen. Verheißen sei das erlösende Licht seinem Volk und es sei eine Lösung oder Erlösung sogar für die ganze Welt. Er übertrug im Sterben diese Aufgabe auf mich und versiegelte diesen Auftrag mit seinem Schwur, der in einen Fluch mündete: ,Ich beschwöre dich bei allem, was dir heilig ist und jemals heilig sein wird, bei der Ehre deines Vaters, dem Andenken deiner Mutter und dem Wohlergehen deines Stammes, meinen Auftrag zu übernehmen. Sonst sollen dein Stamm und dein Volk untergehen.‘“ Er hustete immer mehr Blut, während er sprach, und dann versickerte sein Leben so rasch, wie reicher Regen im losen Sand. Ich konnte ihn nicht mehr befragen, wie das Ziel aussehen solle. Er ließ mich auch im Unklaren darüber, wo ich suchen solle.
Ich weiß nicht, was er in seinen Taschen trug. Ich weiß nicht, ob er überhaupt irgendwelche Wertgegenstände oder eine Waffe bei sich hatte. Ich habe ihn so, wie er war, mit all seiner Kleidung weit unterhalb des Brunnens in eine kleine Felsnische getragen und ihn dort mit dem Gesicht in Richtung der aufgehenden Sonne gesetzt. So könne er ihr neues Licht erwarten, dachte ich. Dann habe ich viele große Steine vor den Eingang gewälzt, bis die Nische völlig geschlossen und verborgen war. Dann deckte ich den verborgenen Brunnen wieder ab, bis seine Umgebung so unauffällig erschien, wie sie zuvor gewesen war.
Ich habe mein Tier eingefangen, um nach Hause zu reiten. Aber ich konnte den Weisen dort am Abend seines Todes nicht alleine lassen und saß noch lange auf einem Stein in seiner Nähe. Er hatte mir aufgetragen, das ihm verheißene Licht zu suchen, das er selbst noch nicht gefunden hatte; das Licht, das seinem Volk und der Welt die Erlösung bringen sollte. Die Lösung oder Erlösung wovon? Die Erlösung wessen - wovon - und wodurch?
Der Mann hinterließ eine Menge Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Es waren mehr Fragen, als ich jemals zuvor gestellt hatte. Er war damals schon sehr weit von einem Land der untergehenden Sonne bis zu uns gewandert und hatte dieses Licht, das er gesucht hatte, doch noch nicht gefunden. Ich saß lange auf dem Stein an seiner Nische und überlegte. Mir war nur seine drohende Beschwörung bewusst. Ich hatte nie von so einem Licht gehört. Es schien mir absonderlich, nach etwas zu suchen, von dem ich keine Vorstellung hatte; nach einem Geheimnis, das ich nicht kannte. Ich wusste deshalb auch nicht, wie ich es anfangen sollte. Wo sollte ich anfangen zu suchen?